Russlands Politik ist revisionistisch. Um zu verstehen, warum, kann man drei Beweggründe betrachten: Messianismus, Geopolitik und Autoritarismus.
Für die längste Zeit war das russische Selbstverständnis das des Dritten Roms. Nachdem Konstantinopel 1453 an die Osmanen fiel, führte das Russische Reich als christlich-orthodoxes Reich Byzanz‘ Erbe fort. Auch die außenpolitische Ideologie der Byzantiner wurde übernommen: Katechon.
Katechon, ein messianisch-biblisches Konzept, sieht einen Staat auf Erden vor, der als Schild Gottes agiert und das Christentum konkret vor seinen Feinden schützt. Der konkrete Feind war für Byzanz seit dem siebten Jahrhundert der Islam. Für Russland war dieses Feindbild die muslimische Goldene Horde, Nachfolger der Mongolischen Invasoren. Als Russland schließlich proklamierte, die Schutzmacht aller Christen im Orient zu sein, führte dieser Anspruch zum Krimkrieg, den Russland 1856 verlor.
Nach der Oktoberrevolution 1917 verschwand Katechon von der Weltbühne. Aber das russische Selbstverständnis als erkorenes Land setzte sich unter dem Kommunismus fort. Es war die „heilige“ Aufgabe der Kommunisten der Welt die UdSSR zu schützen. Der zweite Weltkrieg wurde zum heiligen Krieg erklärt. Das passende Lied (Священная война / Heiliger Krieg) wird bis heute jedes Jahr zur Feier des Sieges über die Nazis gespielt.
Nach dem Zerfall der UdSSR setzte ein ideologisches Vakuum in Russland ein. Doch die neue Führungsriege verstand schnell, die wiedererstarkte orthodoxe Kirche als Machtinstrument zu nutzen, um sich Legitimität zu verschaffen.
Mit einer starken Rolle der Kirche im Staat kehrte der Messianismus in die russische Politik zurück. Diese Rückkehr verdeutlicht sich in der Beschreibung des Westens und Russlands: Putin sagte einmal, die USA seien kein weißes und christliches Land mehr. Manche russische Diplomaten äußerten sogar, dass Russland das letzte europäische Land sei. Wir im Westen haben uns, laut dieser Logik, durch Rechte für Homosexuelle, Transgender und Frauen von unseren christlichen Werten verabschiedet. Damit bleibe nur noch ein Staat auf Erden, der als Schild Gottes das „wahre“ Christentum verteidigen kann: Russland.
Der Kampf für Al-Assad in Syrien wird in den russischen Medien als eine Art „heiliger Krieg“ dargestellt. Die Abspaltung der Ukrainischen Orthodoxen Kirche von der Russischen Kirche in diesem Jahr bestätigt wiederum die Annahme, dass es im neuen Ost-West-Konflikt um mehr als Territorium geht. Seit dem Ende der Sowjetunion hat Russland zwar keine offizielle Staatsideologie mehr, dennoch sehen wir eine Rückkehr des messianischen Selbstverständnisses.
Aus geopolitischer Sicht verfügt Russland in Europa über keine natürlichen Grenzen. Es gibt keine Bergkette, keinen Fluss entlang Russlands europäischer Grenzen. Diese Abwesenheit natürlicher Hindernisse für ausländische Invasoren bereitete den Herrschern Russlands jahrhundertelang Kopfzerbrechen. Sie kehrten immer wieder zum selben Verhaltensmister zurück: Wenn du keine natürlichen Grenzen hast, expandiere, bis du welche findest. Im äußersten Osten Europas führte diese Haltung dazu, dass Russland seit dem Sieg über die Goldene Horde immer weiter expandierte, bis es schließlich 16 Prozent der Landfläche der Erde kontrollierte. Dazu kommt, dass Russland praktisch keine ganzjährig eisfreien Häfen besitzt. Das Fehlen natürlicher Grenzen und eisfreier Häfen spielt in der russischen Denke auch heute noch eine große Rolle.
Aus dieser Sicht würde der Verlust der Ukraine den Verlust einer wichtigen Pufferzone bedeuten.
Ich glaube dabei nicht, wie viele „Putinversteher“, dass Russland sich mit seiner aggressiven Außenpolitik legitim gegen eine Bedrohung durch den Westen verteidigt. Obwohl in MGIMO, Russlands politisch-diplomatischer Kaderschmiede größtenteils klassische Geopolitik unterrichtet wird, ist diese Weltsicht heute realitätsfremd. Die Welt hat sich verändert: Geographie spielt eine geringere Rolle, als es in der Vergangenheit der Fall war, und das aus einem ganz einfachen Grund: Russland verfügt über ein Arsenal an Atomwaffen, dass jeden realpolitischen Nutzen eines militärischen Vorgehens gegen Russland ausschaltet. Der Mangel einer natürlichen Grenze wird durch Massenvernichtungswaffen kompensiert.
Eine reelle Gefahr für jedes autoritäre Regime ist jedoch eine demokratische Revolution seiner eigenen Bevölkerung. Demokratien entwickeln sich wirtschaftlich schneller als Autokratien. Es gibt Ausnahmen, wie China, aber für jedes China gibt es etliche Venezuelas. Bessere Lebensqualität ist ein Argument, dass Menschen weltweit überzeugt. Die drastischen Unterschiede zwischen den Fortschritten in Estland, Lettland und Litauen und der Entwicklung von ehemaligen Sowjetrepubliken außerhalb der EU sind ein starkes Argument für ukrainische und georgische Demokraten.
Wir sind keine Bedrohung für Russland, sondern für die Mafia, die es kontrolliert. Eben weil wir ein erfolgreiches, demokratisches Gegenmodell bieten und weil wir beweisen, dass LGBTQ+ und Frauenrechte nicht zur Endzeit und dem jüngsten Gericht führen. Die russische Regierung wird uns deshalb solange als Gefahr sehen, wie wir zu unseren Werten stehen und solange Russland eine Autokratie messianischer Prägung ist. Solange wird das Kabal um Putin herum auch Populisten in Europa unterstützen: Sie wollen uns spalten, uns zum Werteverrat verführen und expandieren.
Julian Barazi ist JuLi-Mitglied im Kreisverband Tübingen und arbeitet als Staatsschuldenanalyst bei Moody’s.