Im Vorlauf der Europawahl waren sich die meisten Parteien wenigstens in einer Sache einig: Die EU war in den letzten 70 Jahren der Friedensgarant auf unserem einst kriegsgeplagten Kontinent. Und wenn die Europäischen Union beim Erhalt des Friedens zweifelsohne ein entscheidender Faktor war, wird die andere Institution, die es uns ermöglicht, in Frieden und Freiheit zu leben, oft geflissentlich übersehen: Die NATO.
Die Geschichte des Nordatlantikbündnisses ist eine Erfolgsgeschichte. Als Schutz Kontinentaleuropas gegen die sowjetische Aggression konzipiert, sicherten Europäer und Amerikaner gemeinsam die Freiheit Westeuropas gegen die expansionistischen Bestrebungen der UdSSR. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kamen viele Stimmen auf, die die NATO jetzt, da ihr ein gleichwertiger Gegner fehlte, als überflüssig bezeichneten. Doch das Bündnis erfand sich als Werteverbund neu, im Kosovokrieg konnte die entschiedene Intervention der NATO einen Genozid an den Kosovoalbanern verhindern. Mit den Anschlägen vom 11. September 2001 musste sich die NATO wiederum reformieren, hin zu einer weltweiten Kriseninterventionsmacht, die sich nicht mehr primär gegen von Staaten ausgehenden Bedrohungen, sondern gegen nichtstaatliche Akteure verteidigen muss. Es schien so als wäre die ursprüngliche Mission die konventionelle gemeinsame Landesverteidigung in Ermangelung eines ernstzunehmenden Gegners irrelevant geworden.
Vladimir Putin zerstörte auf recht unsanfte Weise diese Illusion, als er 2014 völkerrechtswidrig die Krimhalbinsel besetzte. Zusammen mit seiner umfassenden Unterstützung des Assad-Regimes und später mit der schleichenden Invasion der Ostukraine machte der Autokrat aus dem Kreml klar, dass er die NATO als Gegner betrachtet und vor militärischer Gewalt nicht zurückschreckt. Die Gefahr, die von diesem aggressiv auftretenden Russland ausgeht, darf nicht unterschätzt werden. Die baltischen Staaten und Polen haben zu Recht Angst vor asymmetrischen Angriffen wie in der Ostukraine.
Mit diesem Hintergrund, und auch im Hinblick auf eine immer selbstbewusster auftretende Volksrepublik China, wäre eine handlungsfähige, strategisch stringente NATO bitter nötig. Wir erleben momentan das exakte Gegenteil. Ein US-Präsident stellt die NATO tagtäglich in Frage, während die europäischen Staaten sich weigern, ihren fairen Beitrag zur kollektiven Sicherheit zu leisten. Mitgliedsländer wie die Türkei und Ungarn treten nicht nur die Werte, auf denen die NATO basiert, mit Füßen, sondern rücken demonstrativ immer näher an Moskau. Dieses Chaos ist für die Autokraten dieser Welt ein gefundenes Fressen. Man kann beobachten, wie vor allem Russland diese Uneinigkeit ausnutzt, etwa beim Nordstream-2-Projekt oder beim Verkauf von russischen Flugabwehrsystemen an die Türkei.
Ist die NATO noch zu retten? Und vor allem, was können wir tun, um Sie zu retten?
Ein erster Schritt wäre es, endlich unsere gegebenen Verspechen einzuhalten und 2% des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben. Unsere Bundeswehr wurde über Jahrzehnte hinweg chronisch unterfinanziert, und auch jetzt sind die bereitgestellten Mittel nicht ausreichend, um unsere Soldaten vernünftig auszustatten und unseren Bündnispflichten nachzukommen. Wir müssen uns darüber klar werden, dass es Sicherheit eben nicht zum Nulltarif gibt. Und es ist ohne Zweifel richtig, dass die USA den Löwenanteil der gemeinsamen Verteidigung tragen und finanzieren, und wir Europäer, aber vor allem wir Deutsche uns gemütlich als Trittbrettfahrer dranhängen. Besonders effektiv wäre dieser Schritt natürlich, wenn er mit einer zunehmenden europäischen Verteidigungsintegration einhergehen würde. So könnten wir die militärischen Kapazitäten aufbauen, um einerseits Russland die Stirn zu bieten und andererseits die Amerikaner zu entlasten, die sich dann auf andere Weltregionen wie Ostasien konzentrieren könnten. Ein großes transatlantisches Konfliktfeld wäre so aus der Welt geschafft.
Der Riss, der sich zwischen den Europäern und Amerikanern aufgetan hat scheint aber tiefer. Obwohl wir durch lange Freundschaft verbunden sind, gemeinsame Werte und strategische Interessen teilen, scheint es eine gewisse Dissonanz zwischen den Ländern und Menschen auf den verschiedenen Seiten des Atlantiks zu geben. Wie kann man dem entgegenwirken? Essentiell ist hier, dass man die persönlichen Kontakte auf allen Ebenen fördert, vor allem zwischen den jüngeren Menschen. Schüleraustausche, gemeinsame Seminare für angehende Akademiker und Nachwuchspolitiker, all das hilft Verständnis für die Anliegen und Besonderheiten der anderen Seite aufzubauen, und all das schmiedet die Freundschaften, die jahrelang die der Grundstein der transatlantischen Beziehungen waren.
Darüber hinaus müssen wir als NATO wehrhaft unsere Werte vertreten. Konkret bedeutet das Unnachgiebigkeit im Umgang mit Mitgliedsstaaten wie der Türkei, die die Menschenrechte missachten. Da die NATO hier selbst wenig Handhabe hat, solches Verhalten zu sanktionieren, sind hier die großen Mitgliedsstaaten, auch Deutschland gefragt. Das bedeutet aber auch, uns nicht von Putins Einschüchterungsversuchen ins Bockshorn jagen zu lassen. Auch weiterhin sollten wir den Ländern, die Mitglieder der NATO werden wollen, mit ausgestreckter Hand entgegenkommen. Das gilt besonders für diejenigen, die Russland in seiner Einflusssphäre wähnt, wie etwa Georgien.
Die NATO ist der beste, und vielleicht der einzige Weg, wie wir Frieden und Freiheit weltweit schützen und erweitern können. Geben wir dieses Erfolgsmodell nicht leichtfertig auf. Arbeiten wir daran, es besser zu machen.
Hieronymous Eichgrün ist Landesarbeitskreisleiter Europa, Außen & Verteidigung.